100 Jahre Fachgebiet Papierfabrikation

Prof. Brecht stand dem Fachgebiet Papierfabrikation 40 Jahre vor. Am 01. April 1971 gab er die Leitung an Dr.-Ing. Lothar GÖTTSCHING ab, der ebenfalls mit jungen 34 Jahren zum Professor berufen wurde. Im Gegensatz zu Prof. Brecht konnte Prof. Göttsching ein räumlich und personell gut ausgestattetes Institut übernehmen, das alle Kriegseinflüsse überwunden hatte und dem auch in den folgenden Jahrzehnten derartige tief greifende, erschütternde Ereignisse erspart blieben. Das Institut blieb in der Folge an seinem angestammten Platz in der Alexanderstraße – lediglich die Hausnummern wurden im Zuge innerstädtischer Bereinigungsmaßnahen von 22 auf 8 geändert.

Trotzdem gab es in der Folgezeit innerhalb des Instituts immer wieder gravierende Veränderungen, die im Wesentlichen in Verbindung mit Forschungsprojekten und Promotionsarbeiten standen. Zu erinnern ist an den Ausbau der von Prof. Brecht gegründeten Wasser und Abwasserforschungsstelle (WAF), die in der Folgezeit als Abwasser- und Umweltforschungsstelle (AUF) firmierte (Abb. 7). Während der 1990er Jahre liefen einige Forschungsprojekte zur anaeroben Reinigung von Abwässern von Papier- und Zellstofffabriken in Zusammenarbeit mit der Siemens Kraftwerk Union (KWU), für die Forschungsreaktoren mit bis zu sechs Meter Bauhöhe am Institut installiert waren. Aber die AUF beschäftigte sich nicht nur mit Fragen der Kreislaufwasserführung und -reinigung, sondern zunehmend auch mit allen Fragen der Verwertung und Beseitigung von Reststoffen, den Inhaltsstoffen in den Primär- und Sekundärfaserrohstoffen sowie in Papier- und Kartonprodukten. Dazu kamen Studien zur Ökoverträglichkeit von Prozessen und Materialien sowie Ökobilanzen von Papierprodukten. Die innerhalb des Fachgebiets aufgebaute Abteilung erlangte nationales und internationales Renommee und war auch stets als unabhängige und objektive Institution von Behörden geschätzt.

Andere Projekte, für die umfangreiche Versuchsaufbauten bzw. Messeinrichtungen installiert wurden und immer Bestandteil einer oder mehrerer Promotionsarbeiten waren, sind:

  • Automatische Prüfstraßen zur Auswertung von Papiermaschinen-Längs- und
  • Querprofilen nach Flächenmasse, Dicke, Farbe und Glanz inkl. einer Büroraum großen Rechenmaschine für die Datenanalyse (Abb. 8)
  • Trocknungseinrichtungen für Papier zur Bestimmung der spezifischen Kenngrößen der Papiertrocknung
  • Entwicklung und Aufbau neuartiger Kalanderkonzeptionen zur Optimierung des Satinageprozesses
  • Aufbau einer Anlage zur Herstellung von Wellpappenstreifen zur Verbesserung der Lauffähigkeit von Wellpappenpapieren und der Verklebung von Wellpappe
  • Einführung der Bildanalysesysteme und Entwicklung von Softwareprogrammen zur Analyse von Papierstrukturen (Sieb- und Filzmarkierung, Formation, Nadellöcher) und Bedruckbarkeit (Missing Dots, Mottling).

Einer wesentlichen Entwicklung im Fachgebiet hat Prof. Göttsching während seiner Amtszeit durch die Beschäftigung mit dem Thema Altpapier Vorschub geleistet. Die zunehmende Bedeutung als Rohstoff für die Papierherstellung war zum Zeitpunkt seines Amtsantritts zwar abzusehen, sicherlich nicht aber die Steigung, mit der die Altpapierverwertung in den nächsten drei Dekaden zunahm. Im Stoffaufbereitungstechnikum erfolgten Erweiterungen durch einen Drucksortierer und Fraktionator zur Stoffreinigung bzw. Faserfraktionierung sowie die Installation einer selbst gebauten Flotationszelle. In Verbindung mit diversen Pulpern, Flotations- und Waschzellen sowie Bleicheinrichtungen im Labormaßstab konnten zahlreiche Diplomarbeiten und einige Promotionen auf dem Gebiet der Altpapieraufbereitung durchgeführt werden. Drittmittel finanzierte Forschungsprojekte auf dem Altpapiergebiet wurden zunächst alleine, später immer häufiger in nationalen (z. B. BMFT-Projekt zur Steigerung der Altpapierverwertung oder BMBF-Projekt ÖKOPAP 2000) und internationalen (z. B. EU-Projekte DIP Bleaching und Enzymatic Deinking) Verbundsystemen durchgeführt. Hinzu kam die Erstellung von Studien und Prognosen für den Verband Deutscher Papierfabriken oder die EU-Kommission zur Entwicklung des Altpapiereinsatzes oder zu dem noch verfügbaren Altpapierpotenzial. Der Herausforderung des internationalen Wettbewerbs und der internationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet hat sich Prof. Göttsching gestellt und sich den Ruf des „Altpapier-Papstes aus Darmstadt“ erarbeitet.

Das weltoffene Naturell von Prof. Göttsching war die Basis für die Kontaktpflege mit vielen Kollegen auf internationaler Ebene – vorausgesetzt, es gibt dort ein Papierinstitut oder zumindest eine Papierindustrie. Er war es, der nach dem 2. Weltkrieg intensive Beziehungen nach Osteuropa aufnahm, die ohnehin guten Kontakte zu Finnland aufrecht erhielt und neue nach Süd-, Mittel- und Nordamerika, Südafrika, Japan und Australien aufbaute. Seine rege Reisetätigkeit konnte er dabei nicht immer alleine bewältigen, so dass auch seine geschätzten Mitarbeiter häufiger Überseereisen im Auftrag des Instituts durchführen durften, was der Autor dieser Zeilen auch zu genießen wusste. Unvergessen sind aber auch die zahllosen Exkursionen mit Studenten und Mitarbeitern, die Prof. Göttsching regelmäßig ein Mal pro Jahr in Deutschland oder Europa durchführte. Grundsätzlich stellen Exkursionen für jeden Teilnehmer eine Weiterbildungsmaßnahme dar und erweitern den Horizont, wobei für Studenten und Mitarbeiter die Finnlandexkursionen immer von besonderem Reiz waren. Glanzlichter aller Exkursionen, zumindest für jene, die daran teilnehmen durften, waren aber sicherlich zwei Überseereisen. 1984 startete eine 16-köpfige Reisegruppe aus Mitarbeitern und ausgewählten Studenten nach Kenia und Südafrika, um dort die Zellstoff- und Papierindustrie sowie das Schwesterinstitut in Stellenbosch zu besuchen. Zwei Jahre später reisten fünf Institutsmitarbeiter nach China, um Papierfabriken zu besichtigen und Seminare in verschiedenen Papiermacherzentren abzuhalten. Sowohl die fachlichen als auch die kulturellen Eindrücke machten beide Reisen zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Bei der Aufzählung von durchgeführten Forschungsarbeiten dürfen die Projekte nicht vergessen werden, die mit mehr oder weniger konventioneller Prüftechnik papierphysikalische Themengebiete bearbeiteten, wie beispielsweise zum Verständnis der Bruchmechanik von Papier oder von Vorgängen beim Rollenwickeln. Erforderlich sind hierzu Klimaräume, von denen das Institut drei besitzt und in denen die Papierprüflaboratorien eingerichtet sind. Sie wurden während der Amtszeit von Prof. Göttsching, finanziert durch die TH Darmstadt, sukzessive modernisiert. Für die Durchführung der experimentellen Arbeiten sind aber auch modernste Prüfgeräte notwendig, die in der Vergangenheit häufig in Verbindung mit Forschungsprojekten angeschafft werden konnten, in den letzten 10-15 Jahren aber immer seltener eine derartige Finanzierung fanden.

Restriktivere Forschungspolitik und zunehmende Auflagen bei der Vergabe von Forschungsaufträgen erschweren zusehends die Anschaffung moderner Papierprüfgeräte mit öffentlichen Geldern, zumal die Anschaffung eines modernen Gerätes heute mehr als 100.000.- Euro verschlingt. Daher sind Institutsleitung, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten sehr dankbar für das Engagement der Industrie mit der KORA-Förderung, die es durch Zuwendungen des Verbands Deutscher Papierfabriken (VDP) und der Vereinigung der Arbeitgeberverbände der deutschen Papierindustrie (VAP) in den letzten Jahren ermöglichte, neue Geräte anzuschaffen und notwendige Ersatzbeschaffungen von Geräten zu tätigen, aber auch dringend erforderliche Renovierungsmaßnahmen durchzuführen, für die sich im Etat der Technischen Universität Darmstadt keine Mittel mehr finden ließen. Im Grunde schließt sich hier ein Kreis, da vor etwa 100 Jahren das Baby – die Fachrichtung Papieringenieurwesen – auch auf die finanzielle Unterstützung seitens der Industrie angewiesen war, sei es durch Verbände oder einzelne Firmen. Ohne diese Unterstützung wäre kein erfolgreicher Start möglich gewesen. Heute sind die Hochschulinstitute auch wieder in einer Situation, in der sie auf dem europäischen Niveau wissenschaftlichen Arbeitens häufig nur dann mithalten können, wenn sie über die entsprechende Ausstattung verfügen. Diese können und wollen derzeit aber weder die Universitäten noch die öffentlichen Geldgeber finanzieren. Es ist daher abzusehen, dass mittelfristig die Industrie verstärkt aufgefordert sein wird, die ihr nahe stehenden Institute weiter zu unterstützen, damit diese sich im internationalen Wettbewerb behaupten können. Das Fachgebiet Papierfabrikation möchte sich diesbezüglich aber keineswegs beklagen, sondern hofft vielmehr auch weiterhin auf ein tatkräftiges „Sponsoring“ durch Industrie und Verbände.

Das Jubiläum zur 75-jährigen Bestehen des Instituts wurde im Oktober 1980 in Verbindung mit dem APV-Jahrestreffen gefeiert. Eine Vortragsveranstaltung von Mitarbeitern des Instituts über aktuelle Forschungsprojekte im Hörsaal der Elektrotechnik bildete den fachlichen Teil der Veranstaltung. Der Begrüßungsabend fand im Jagdschloß Kranichstein statt. Der Festakt wurde in der Orangerie mit rund 300 Gästen begangen, darunter 18 ausländische Hochschul- und Forschungsinstitute (Abb. 9). Die Festrede mit dem Titel „Papiergedanken“ hielt Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dolf STERNBERGER, Politologe und ehemaliger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für die musikalische Untermalung sorgte das Kammerorchester Bad Soden, am Taunus unter Leitung von Robert GÖTTSCHING, dem Vater von Prof. Göttsching [22].

Der außerordentlich große Bedarf an Papieringenieuren in den ersten 25 Jahren des Bestehens des Fachgebiets dokumentiert sich in den aus heutiger Sicht hohen Studentenzahlen von durchschnittlich 51 Semesterbelegern zwischen SS 1905 und WS 1929/30, wobei zu berücksichtigen ist, dass darin sogar noch zehn Kriegssemester zwischen 1914 und 1919 enthalten sind. Lässt man diese Semester unberücksichtigt, ergibt sich für die ersten 25 Jahre des Fachgebiets sogar eine durchschnittliche Zahl von 66 Semesterbelegern.16 In den darauf folgenden neun Jahren bis zum Beginn des 2. Weltkriegs blieben die Studentenzahlen weiterhin auf hohem Niveau von durchschnittlich 35 Studenten, während die Zahl der Semesterbeleger vom Wintersemester 1939/40 bis 1944/45 auf durchschnittlich vier Studenten zurück ging.13 In der Nachkriegszeit erholten sich die Studentenzahlen rasch und erreichten bis zum Wintersemester 1954/55 wieder einen Durchschnittswert von 30 Semesterbelegern. Ohne die Kriegssemester des 1. und 2. Weltkriegs ergibt sich ein Durchschnitt von 31 Semesterbelegern zwischen Sommersemester 1905 und Wintersemester 1954/55. Legt man eine durchschnittliche Studienzeit von 2,5 Jahren im Hauptdiplom zugrunde, so kommt man auf durchschnittlich 12 Papieringenieurstudenten pro Jahrgang.

Ab 1931, also seit Beginn der Amtszeit von Prof. Brecht, lässt sich die Statistik auch etwas anders führen, nämlich anhand der Anzahl durchgeführter Diplomarbeiten am Fachgebiet pro Jahr. Abb. 10 zeigt die jährlichen Diplomarbeiten zwischen 1931 und 2002, deren Anzahl zwischen 0 und 30 liegt. In der 40-jährigen Amtszeit von Prof. Brecht wurden durchschnittlich 7,2 Diplomarbeiten pro Jahr angefertigt, in der 31-jährigen Amtszeit von Prof. Göttsching waren es 8,1 Diplomarbeiten pro Jahr. Lässt man die Zeit des 2. Weltkriegs und die Nachkriegszeit (1939 – 1948) unberücksichtigt, da die Arbeit fast zum Erliegen kam, so errechnet sich für die Amtszeit von Prof. Brecht ein Durchschnitt von 8,8 Diplomarbeiten pro Jahr. Im Gesamtdurchschnitt haben zwischen 1931 und 2002 durchschnittlich 7,6 Diplomanden pro Jahr eine Diplomarbeit angefertigt. Da nur sehr wenige Diplomarbeiten angefertigt wurden, die nicht in Zusammenhang mit einem Abschluss als Papieringenieur durchgeführt worden sind, ist von einem langfristigen Durchschnitt von 7,5 Papieringenieurabsolventen pro Jahr auszugehen.

Abb. 8: Klimaraum mit automatischer Papierprüfstraße um 1980

Abb. 9: 75-jähriges IfP-Jubiläum 1980 in der Orangerie

[22] N.N.: 75 Jahre Institut für Papierfabrikation. WfP 108(1980) Nr. 23/24, S. 967-971